Mittwoch, 15. Dezember 2010

3. Szene

3. Szene

Schlaraffenland


Die Bühne ist leer.


Die beiden Chöre treten auf u. stellen am linken u. rechten Bühnenrand jeweils eine Reihe Tassen, Gläser, Teller und Töpfe auf. In die Tassen stellen sie Löffel, in die Gläser Messer u. in die Töpfe Kochlöffel.

Während der Szene nimmt der eine Chor zuerst die Tassen u. rührt in unterschiedlicher Lautstärke mit den Löffeln darin rum, während der andere Chor in unterschiedlicher Lautstärke ruft:


Du bist wahnsinnig.

Du bist irre.

Du bist krank.

Du bist schuld.


Die Chöre wechseln sich im Rufen u. Rühren ab. Nach den Tassen nehmen sie die Gläser u. schlagen mit dem Messer dran, wie wenn man auf sich aufmerksam machen will, um eine Rede zu halten. Dann nehmen sie die Teller u. schmeißen sie fest auf den Boden, dass sie in Tausend Stücke zerbrechen. Am Schluss der Szene nehmen sie die Töpfe u. trommeln Samba-Rhythmen u. tanzen entsprechend. Immer im Wechsel mit dem Rufen der vier Anschuldigungen.


Der Mann betritt in Windeln die Bühne u. legt sich vor die hintere Wand auf den Rücken. Über seinen Mund hält er eine riesige Flüstertüte aus Blech. Während der Szene brüllt er folgende Kreuzworträtselfragen, die niemand beantwortet:


griech.-röm. Gott mit 6 Buchstaben

Ausflug zu Pferd mit 4 Buchstaben

Bild von E. Manet mit 4 Buchstaben

Kimonogürtel mit 3 Buchstaben

Bühnengestalt bei Brecht mit 5 Buchstaben

Kraftmaschine mit 5 Buchstaben

ital. Maler mit 8 Buchstaben

Oper von Händel mit 4 Buchstaben

Roman von H. Mann mit 15 Buchstaben

Insel in der irischen See mit 3 Buchstaben

Küchengerät mit 4 Buchstaben

Erbfaktor mit 3 Buchstaben


Die Frau in ärmellosem u. rückenfreiem Abendkleid betritt die Bühne. Sie stellt eine elektrische Kochplatte in die Mitte der Bühne u. schließt sie mittels eines Verlängerungskabels an. Sie legt einen Schlagstock, eine Suppenkelle u. eine große Spritze neben die Kochplatte.


Stimme des Doktors aus dem Off:


Der Mensch muss essen. Wenn der Mensch isst, ist er gesund.

Der Mensch muss essen. Wenn der Mensch isst, ist er gesund.

Der Mensch muss essen. Wenn der Mensch isst, ist er gesund.


Die Frau stellt einen sehr großen Topf, randvoll mit Erbsuppe, auf die Kochplatte. Sie rührt die Suppe mit einem Schlagstock.

Die Frau schluckt einige Pillen.


Die Stimme des Doktors aus dem Off:


Dank der Medizin, denn sie hilft.

Dank der Medizin, denn sie hilft.

Dank der Medizin, denn sie hilft.


Die Frau:


hee


HEE


H-E-E-E-E


Die Frau schluckt weitere Pillen.


Die Stimme des Doktors aus dem Off:


Wär doch gelacht, würden wir das nicht in den Griff kriegen.

Wär doch gelacht, würden wir das nicht in den Griff kriegen.

Wär doch gelacht, würden wir das nicht in den Griff kriegen.


Das Kind, gespielt von einem etwa dreißigjährigen Mann, betritt die Bühne. Es trägt Turnschuhe, Turnhose u. T-Shirt.

Die Frau zeigt mit dem Finger u. sagt:


Ohwehohwehohweh


Die Frau packt das Kind u. drückt es neben dem Suppentopf in die Knie. Das Kind faltet die Hände wie zum Gebet.


Die Stimme des Doktors aus dem Off:


Es wird sich prächtig entwickeln. Da sind wir uns sicher.

Es wird sich prächtig entwickeln. Da sind wir uns sicher.

Es wird sich prächtig entwickeln. Da sind wir uns sicher.


Die Frau nimmt einen großen Schöpflöffel, füllt ihn mit Suppe. Hält ihn dem Kind vor den Mund. Die Suppe läuft über das T-Shirt. Die Frau gibt dem Kind eine Ohrfeige.


Die Stimme des Doktors aus dem Off:


Man muss schon machen, was der Onkel Doktor sagt, sonst wird die Mutter böse u. das Kind kommt ins Krankenhaus.

Man muss schon machen, was der Onkel Doktor sagt, sonst wird die Mutter böse u. das Kind kommt ins Krankenhaus.

Man muss schon machen, was der Onkel Doktor sagt, sonst wird die Mutter böse u. das Kind kommt ins Krankenhaus.


Die Frau:


Aaaaaah

Brrrrrrrr

Scheiße


Die Frau nimmt die Spritze, geht an den Bühnenrand u. macht sich einen Einlauf. Dann geht sie zurück u. stellt sich über die Kochplatte u. lässt den Einlauf in die Suppe laufen.

Sie zieht die Spritze mit Suppe auf.


Die Frau:


Komm zu Mama.

Hopp, Hopp.


Die Frau wirft ein paar Tabletten ein.


Die Stimme des Doktors aus dem Off:


Medizin ist bitter. Wer nicht hören will, muss fühlen.

Medizin ist bitter. Wer nicht hören will, muss fühlen.

Medizin ist bitter. Wer nicht hören will, muss fühlen.


Die Frau nimmt die Spritze, steckt sie in den Mund des Kindes u. drückt die Suppe in seinen Mund. Die Suppe läuft an den Mundwinkeln wieder heraus.


Die Frau:


Scheiße Scheiße Scheiße


Die Frau nimmt den Topf mit Suppe. Geht zu dem Mann u. schüttet die Suppe in die Flüstertüte. Der Mann spuckt, lässt sich aber nicht beirren u. stellt weiterhin seine Kreuzworträtselfragen.


Die Stimme des Doktors aus dem Off:


Selbst ist der Mann. Gesund sein heißt stark sein.

Selbst ist der Mann. Gesund sein heißt stark sein.

Selbst ist der Mann. Gesund sein heißt stark sein.


Die Frau holt von hinter der Bühne einen weiteren Topf, gefüllt mit Chili con Carne. Im Chili steckt ein großer Holzlöffel.


Die Stimme des Doktors aus dem Off:


Ballaststoffe beleben Geist und Körper. Und Remy räumt des Magen auf. Kommt der Reflux nimmt man flugs zwei Omep, wer bleibt schon gerne Depp. HaHaHa

Ballaststoffe beleben Geist und Körper. Und Remy räumt des Magen auf. Kommt der Reflux nimmt man flugs zwei Omep, wer bleibt schon gerne Depp. HaHaHa

Ballaststoffe beleben Geist und Körper. Und Remy räumt des Magen auf. Kommt der Reflux nimmt man flugs zwei Omep, wer bleibt schon gerne Depp. HaHaHa


Die Frau nimmt den Löffel u. füttert das Kind:


Einszweidrei für Oma.

hihihi

Einszweidrei für Opa.

hihihi

Einszweidrei für Onkel.

hihihi

Einszweidrei für Tante.

hihihi

Einszweidrei fürs Brüderchen.

hihihi

Einszweidrei fürs Schwesterchen.

hihihi

Einszweidrei für Papa.

hihihi

Einzweidreivierfünfsechs für Mama.

Hihihi


Die Stimme des Doktors aus dem Off:


Ehrenwert die Mutter, die sich selbstlos aufopfert. Helau.

Ehrenwert die Mutter, die sich selbstlos aufopfert. Helau.

Ehrenwert die Mutter, die sich selbstlos aufopfert. Helau.


Das Kind kotzt der Frau das Kleid voll.


Die Frau schreit.


Der Mann, besudelt mit Erbsuppe, steht auf, stürmt auf das Kind los u. schlägt es halbtot. Dann legt er sich wieder auf seinen Platz u. fährt fort mit seinen Kreuzworträtselfragen.


Die Frau weint. Sie wirft Tabletten ein.


Die Stimme des Doktors aus dem Off:


Du treibst deine Mutter ins Grab. Du kommst ins Krankenhaus.

Du treibst deine Mutter ins Grab. Du kommst ins Krankenhaus.

Du treibst deine Mutter ins Grab. Du kommst ins Krankenhaus.


Die Chöre sind bei den Samba-Rhythmen angekommen. Sie halten mit einem letzten großen Trommelschlag inne.


Die Frau nimmt den Topf u. schüttet das Chili in die Flüstertüte des Mannes. Dann nimmt sie die Kochplatte u. trägt sie hinter die Bühne. Der Mann steht auf u. verlässt die Bühne.


Die Frau kommt zurück, zieht ihr Kleid aus u. wischt damit den Bühnenboden auf. Dabei stöhnt sie lautstark.


Die Stimme des Doktors aus dem Off:


Die Praxis schließt jetzt. Alle sind gesund.

Die Praxis schließt jetzt. Alle sind gesund.

Die Praxis schließt jetzt. Alle sind gesund.


Die Frau schreit:


Arschloch.


Die Frau erstarrt kniend in Putzhaltung


Das Kind stellt sich an den Bühnenrand u. legt sich in der Fötusstellung auf den Boden.


Aus dem Off die Stimme des Kindes. Die Stimme spricht sehr kindlich süß, als spräche sie mit einer Puppe oder einem Teddybären. Teilweise lispelt u. stottert die Stimme:


Ich erzähle dir einen Traum: Einst war ich in einem fernen Land. Das Meer brandete nicht weit von mir gegen Felsen. Doch der Urlaub endete. Ich nahm den Bus zum Flughafen. Als er auf die Autobahn fahren wollte, war sie gesperrt. Wir sahen eine riesige Sandpiste, die schnurgerade zum Horizont führte. Dahinter musste der Flughafen sein. Das Flugzeug sollte in einer Stunde starten. Mich überkam Gewissheit, dass wir es wohl verpassen würden. Der Fahrer beruhigte die Passagiere in einem Mischmasch aus vielen Sprachen. Wir fuhren an Pinien vorbei. Zuerst kroch der Bus eine sehr steile Straße hinauf. Ich dachte, er würde hinten überkippen. Doch der Bus schaffte es. Dann fuhr er eine ebenso steile Straße wieder hinab. Stell dir vor, wieder überschlug er sich nicht. Ich krampfte meine Hände in den Vordersitz. Wir kamen in einem Tal an. Unter Bäumen standen Bänke u. gedeckte Tische. Ein dicker, schmieriger Mann in schwarzem Anzug u. schwarzem Schnauzbart begrüßte uns herzlich. Nicht weit von den Bänken befand sich ein mit Stacheldraht eingezäuntes Areal. Ich hatte es schon von der Höhe aus gesehen. Ich hatte es für einen Schrottplatz gehalten. Ich näherte mich dem Stacheldrahtzaun u. sah, dass auf dem Areal viele schwarze, kleine Kampfjets und Stealthbomber standen. Ich wusste, sie standen da für mich. Auf dem Fest vermisste man mich nicht. Ich wusste, ich würde mit den Bombern wegfliegen. Dann wachte ich auf.


Das Kind verlässt die Bühne.


Die Frau weint u. schluchzt.


Über Lautsprecher wird Heinos „Karamba, Karacho, ein Whiskey“ eingespielt.


Die Frau steht auf u. tanzt zu dem Lied, das als Putzlappen missbrauchte Kleid wie eine Peitsche schwingend.


Lautstark grölt sie die beiden Zeilen mit:


Verflucht, sacramento, Dolores

Und alles ist wieder hin



Nach dem Lied verlässt sie die Bühne.


Die Chöre ab.


Licht aus.

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